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10.000 Meter sind weniger als 42.195 Meter.

„Bist du überhaupt ins Schwitzen gekommen?“, „Das schaffst du doch locker!“ oder „War eine schöne Aufwärmrunde, was?“ Solche und ähnliche Weisheiten hört man als Marathon- und Ultramarathonläufer gern, wenn man sich an die Startlinie eines Unterdistanzwettkampfes stellt.

Es ist eine Frage der Geschwindigkeit. Beim leistungsorientierten Laufen geht es ausschließlich um Geschwindigkeit. Die Distanz eines 10.000 Meter Laufes beträgt ein knappes Viertel der Distanz eines Marathons. Im Marathontempo gelaufen wäre er tatsächlich eine nette Aufwärmrunde. Aber man läuft den 10.000 Meter Lauf nicht im Marathontempo. Deswegen ist er keine nette Aufwärmrunde, deswegen kommt man gewaltig ins Schwitzen und die Antwort auf das Schaffen bezieht sich ausschließlich auf die angepeilte Zeit.

Nein, ein 10.000 Meter Lauf ist nicht nichts für den Marathonläufer. Er ist sogar ziemlich nicht nichts. Er ist, um mal ganz ehrlich zu sein, nicht keine Tortur. Das Tempo ist so atemberaubend hoch, dass man gar nicht glaubt es so jemals ins Ziel zu schaffen.

Bis Kilometer drei geht es eigentlich ganz gut. Man findet sein Tempo, hat den anfänglichen Tempoleichtsinn korrigiert und rennt so vor sich hin. Fast ein Drittel ist rum. Geht doch. Bis Kilometer fünf gibt es keine besonderen Vorkommnisse. Dann beginnt die zweite Hälfte. Rechnerisch. Die Beine zeigen an: „Das ist uns zu schnell!“ Der Kopf sagt: „Schnauze Beine, weiter!“ Also gut. Bis Kilometer sechs auch keine nennenswerten Vorkommnisse außer der angemeldeten Demonstration der Beinpartei. Der Blick auf die Uhr signalisiert auch schon einen leichten Tempoverfall. Also gibt es den ersten Wasserwerfereinsatz. Die Sitzblockade der Beinpartei muss aufgelöst werden.

Kilometer sieben ist in Sicht. Der beziehungserfahrene Läufer weiß, jetzt wird’s haarig. Der verflixte Kilometer sieben. Die Sitzblockade wurde zwar  aufgelöst, doch ist die nächste Gruppe der Tempogegner bereits aktiv. Eine Horde vermummter Muskelfasern zieht sich zusammen und blockiert die Beinbewegung. Am Kilometerschild sieben passiert es. Alle Deeskalationsmaßnahmen der körpereigenen Exekutive sind gescheitert, es kommt zum Einsatz von Tränengas. Die vermummte Muskelfasergruppe macht dicht, das Tränengas schickt sie gewaltsam in Richtung Kilometerschild acht. Der Hubschrauber knattert martialisch tief über der Demonstration und mahnt die Vermummten zum Gehorsam. Lauft, oder es wird ernst. Kilometer acht ist erreicht. Der Versuch einer erneuten Blockade wird im Keim erstickt, selbst die Tempogegner sehen, dass es jetzt doof wäre, umzukehren. Also beschränken sie sich auf den Minimalwiderstand. Sie lassen sich einfach von der Horde bewaffneter Bereitschaftshormone aus dem Hexenkessel drängen. Sie leisten kaum mehr Widerstand, allerdings auch keinerlei Hilfe.

Bis Kilometer neun gibt es außer Säbelrasseln, Drohungen und Machtdemonstrationen der Körperpolizei keine weitere Eskalation. Die Tränengasreizung lässt aber nicht nach. Der Wasserwerfer fährt den Muskelgruppen auf den Fersen, man spürt die Hitze seines Motors auf dem Rücken. Die Demonstration wurde quasi aufgelöst. Einzelne Vermummte rennen zerstreut umher. Es sind jetzt noch zwei Stadionrunden, noch eine, das Ziel ist in Sicht. Die Verkrampften reiben sich die brennenden Augen. Keiner weiß mehr, was war, was ist und was sein wird. Alle ergeben sich, das Ziel ist zum Greifen nah, alle Beteiligten sind auf das Ende fokussiert. Es piepst die Zeitmatte, Demonstranten und Polizei liegen sich in den Armen. Der Horror ist vorbei und keiner weiß mehr, worum es eigentlich ging.

10.000 Meter sind kein Pappenstiel. Sie tun weh. Mehr als ein vorsichtig gelaufener Ultramarathon.

10.000 Meter sind ein Gradmesser für den Marathon.

10.000 Meter sind schnell vorbei.

10.000 Meter sind ein zentrales Messinstrument für den Zustand einer Körpergesellschaft. Regierung, Exekutive und das Fußvolk streiten. Die Judikative richtet, aber erst nach dem Ziel. Stimmt hier die Balance und kommt es zu einem Vergleich, der alle Beteiligten zufrieden stellt, ist die Gesellschaft gesund.

Gestern waren wir zu dritt. Alle haben ihre Bestzeit erreicht. In bester Gesellschaft.

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