Die Dienstage sind die bösen Tage eines Läuferlebens. Ich nenne sie ja gern Warum-tu-ich-mir-das-an-Dienstage. Heute ist ein ganz anderer Dienstag. Nur ein Buchstabe ist anders, der bedeutet aber alles. Aus W mach D. Aus Warum wird Darum. Und das ist was.
Warum läuft ein Läufer (außer am Dienstag nach dem Marathon)? Einer, der kein Runner’s High kennt, einer, der oft lieber Fahrrad fährt, einer der gern fertig mit dem Laufen ist und einer, der lieber kocht und Wein trinkt? Einer, der Zigarren raucht und auch sonst den faulen Genüssen zugetan ist? Darum.
Wegen eines Dienstags, wie heute. Alles tut weh. Waden, Oberschenkel, ja sogar die Rückenmuskulatur. Das Treppengehen in die Hinunter-Richtung sollte man unterlassen. Ein Treppenlift wäre von Vorteil und man versteht etwas besser, warum eigentlich alles behindertengerecht sein sollte.
Gestern bin ich noch ein bisschen in ein Loch gefallen. Vielleicht ist der Laktat- kombiniert mit dem Alkoholabbau etwas zu viel für den Körper am Montag. Heute scheint er jedoch ganz fidel bei den Aufräumarbeiten der ungesunden Überanstrengungsreste zu sein. Die Vorstellung einer Großbaustelle mit allerhand schwerem Gerät, Staub und Lärm passt ganz gut zu dem Gefühl in den Beinmuskeln.
Es ist heute der Dienstag, an dem man ein 364stes Mal die Ergebnisliste anschaut und prüft, ob sich vielleicht nicht doch ein Fehler eingeschlichen hat, vor allem bei den 527 Läufern, die die Frechheit besaßen, vor einem im Ziel zu sein. Oder ob die Bilder endlich hochgeladen sind, die einen mit Wasserzeichen versehen, aber dennoch gut erkennbar schmerzverzerrt zeigen.
Es ist auch der Wunden-lecken-Dienstag. Man hat wieder Zeit und auch die Fähigkeit zu spüren, was alles kaputt ist im Körper und wie wichtig die Regeneration ist. Auch die Lungen zum Beispiel. Da wurde am Sonntag zwischen 9:00 und 11:47 Uhr so unglaublich viel Luftvolumen umgesetzt. Kaltes Luftvolumen. Acht Grad waren es beim Start oder so. Und das spürt man heute und morgen und übermorgen und gestern. Ein deutliches Brennen ist vernehmbar. Nachbrennen. Ein Zeichen dafür, dass erstmal nicht so viel Volumen umgesetzt werden sollte.
Trotzdem oder vielleicht genau deswegen: Darum. Vielleicht ist das am schwersten Erreichbare das, das den höchsten Genuss verspricht? Vielleicht. Aber jetzt mal ehrlich. Es macht auch irgendwie Spaß, das Laufen auf die verrückte Ebene zu stellen, die Arbeit daran hervorzukehren und das Absurde zu pointieren. Man nennt das manchmal auch Kokettieren. Also ja, Laufen macht schon Spaß. Auch wenn es oft am meisten danach Spaß macht. Nach dem Laufen. Aber ohne Laufen gäbe es ja kein Nach-dem-Laufen. Also.
Und: Dann gibt es so einen Wettkampf wie am Sonntag. Ideales Wetter, ideale Form, ideale Zeiteinteilung, ideales Gefühl. An 10 Stellen stehen die Freunde und versorgen einen mit Kohlenhydraten und Liebe. Die Wasserstationen kann man links liegen lassen. Oder rechts. Und es läuft. Es läuft und läuft und läuft. Kilometer 5, 10, 15, 17, 20, 24, 29, 33 … vergehen wie im Flug. Ich frage mich, wann es denn endlich schwer wird. Irgendwie unwirklich. Schon beim Start hatte ich das Gefühl, dass es heute gut wird. Einmal kurz austreten bei Kilometer drei. 30 Sekunden Pause. Die ersten 5 Kilometer in 4:01 Minuten pro Kilometer. Perfekt. Ein langsamer Anfang garantiert einen schnellen Lauf. Danke Niere.
Bei Kilometer 36 Komma fünf steht noch eine sehr gute Freundin, die sich trotz rasender Kopfschmerzen auf den Weg gemacht hat. Das ist unglaublich toll, wenngleich auch unabdingbar. Gerade der Kilometer 36 Komma fünf ist ein Schlüsselkilometer. Hier wird es immer schwer. Immer. Auch vorgestern. Hier braucht man Liebe und Kohlenhydrate. Ich reiße ihr die Flasche aus der Hand. Sie weiß vielleicht gar nicht, wie dankbar ich ihr bin.
Das mindestens 98ste Schild mit „Umdrehen ist jetzt auch doof!“ habe ich passiert. Bei Kilometer 36 Komma fünf glaube ich es zum ersten Mal. Weiter trotz Aua. Das Aua ist nicht so schlimm, wie es sein kann. Und es kann sehr sehr sehr schlimm sein. Man kann zwischen Kilometer 35 und 42 gut 10 Minuten verlieren oder mehr. Und das ist eine echt bittere Pille, die man schlucken muss. Sie bleibt mir dieses Mal erspart.
Bei Kilometer 39 stehen die gleichen wie bei Kilometer 10. Die konnten gemütlich abkürzen. Ich nicht. Dort brauche ich vor allem Liebe. Weniger Kohlenhydrate. Leipziger Straße. Todesstraße. Jetzt tut wirklich alles weh, die Beine gehen nicht mehr von alleine, man muss jeden Schritt erzwingen. „Halt die Schnauze! Du läufst jetzt und zwar mit dem Kopf!“ erwidert mir die Kilometer-39-Beauftragte auf mein Gejammer, dass das ja immer die gleiche Scheiße sei hier. Etwas Richtigeres konnte sie in dieser Situation nicht sagen. Was gehen mich meine Beine an? Der Wettkampf wird im Kopf gewonnen. Ich laufe also mit dem Kopf. Es kommt der Kilometer 40. Von hier sind es noch fünf Stadionrunden. Ich keuche und stöhne und huste. „Come on, you can do it!“ brüllen mich zwei Läufer, die ich überhole an. Ich huste nochmals sehr laut. „Yes! Go! Gooo!“ schreien sie. Kilometer 41 kommt in Sicht. Vorbei. Dann kommt die Sicht aufs Brandenburger Tor. Kerzengerade geht es jetzt Richtung Ziel.
„Bitte sprinten Sie nicht auf dem letzten Kilometer“ teilen einem die Lautsprecher im Startbereich mit. Genau. Das werde ich jetzt befolgen. Nicht sprinten. Ist klar. Ich drücke drauf ohne Rücksicht auf Verluste, so, als ob es kein Morgen gäbe. Es fühlt sich an, wie bei dem Audi 80 Diesel von meinem Schulfreund, der auf der A8 Richtung Karlsruhe kurz nach Pforzheim am Berg einen Laster zu überholen versucht. Das Bodenblech stellt sich als hauchdünne Membran gegen den Schlag der Schwanzflosse eines Buckelwals. 100%.
Manche Hochleistungssportler trainieren 100%-Intervalle. Die dauern dann etwa 3 Sekunden. Mehr geht nicht. Der Körper ist darauf bedacht, noch Reserven mobilisieren zu können. Aber nur im äußersten Notfall. Dieser äußerste Notfall ist nach dem Brandenburger Tor eingetreten. 195 Meter äußerster Notfall. Es ist mir vollkommen egal, wie verzerrt ich auf den Bildern aussehe. Hier zählt nur noch eins: Das Ziel möchte ich jetzt von der anderen Seite sehen. Gewalt. Pure, rohe Gewalt tu ich meinem Körper an. Wahrscheinlich kommen 85% der Schmerzen heute von den letzten 195 Metern des Marathons.
Haben die das Ziel verlegt? Ich bin in meinem Leben noch nie so lange 195 Meter gerannt. Es hört und hört nicht auf. Da ist doch das Ziel! Aber es dauert noch. Endlose Schritte. Der äußerste Notfall zieht sich. Doch irgendwann ist auch der äußerste der äußersten Notfälle vorbei. Die erbarmungslos laufende Uhr ist genau über mir, die Zeitmessmatte quittiert meine Ankunft mit einem schrillen Piep. Aus. Vorbei. Ich kann es kaum fassen. Bestzeit. Auf meiner Uhr stehen noch 3 Sekunden mehr als es tatsächlich sind. Ein Geschenk.
Ich taumle etwas im Ziel. Ich reiße mich schnell zusammen, denn die ganzen Aufpasser sind drauf getrimmt, Kollabierende rechtzeitig zu erkennen. Ich will nicht angesprochen werden. Die Hände verdecken mein Gesicht. Unaufhaltsam drängeln sich die Tränen am Ausgang. Ich lasse sie raus. Was für ein kleiner Moment für die Menschheit, was für ein großer für mich.
Darum tu ich mir das an.