Der Tag davor

Dingdong. Hat es geklingelt? Wer besucht mich den jetzt? Ist es der Bürgermeister? Der Polizeipräsident oder der Rennleiter des SCC? Eine kleine persönliche Entschuldigung wäre schon angebracht. Schließlich hat man mir vor einem knappen Jahr zwei Teilnehmerbeiträge á 100 Euro abgebucht und dann als Strafe noch fünf Euro einbehalten, weil ich mich angeblich doppelt angemeldet hätte. Und dann noch das Startblockdesaster. Also Herr Milde, Sie sind willkommen. Einen Schluck Wasser habe ich für Sie. Kostenlos!

Werbung! Ach so. Srrrrrr. Es klingelt, summt und wummert. In meinem Kopf. Bitte keine Werbung. Heute nicht. Eigentlich nie. Ich bin Marathonläufer. Ich brauche keine Werbung und heute schonmal gar nicht. Ich habe die letzten Vorbereitungen für das Helfermahl morgen abgeschlossen und hänge so rum. Die Zutaten für die Mailänder Minestrone habe ich im Übrigen auch ohne Werbung gefunden. Ich liege eher so rum. Beine hoch. Ruhe. Mit 75 Herzschlägen pro Minute. Entspannung pur. Ja, so eine Läuferpumpe ist schon herzig. Normalerweise habe ich einen Ruhepuls von etwa 35. Nachts. Lange nach der REM-Phase. Nach der Renn-Phase morgen werde ich bis zum Abend kaum unter 100 kommen.

Auch vor dem Start im Startblock (B!) werde ich stehend etwa 110 haben. Einhundertzehn! Im Stehen. Wie soll das dann erst im Rennen werden? Deswegen lasse ich morgen den Brustgurt zu Hause. Der Puls ist mir morgen egal. Er darf machen, was er will. Er hat frei. Er darf bis 190 hochgehen. Ist mir alles recht. Die Uhr zeigt null an. Tod eines Handlungsrasenden. Ich laufe nur nach Zeit. Mache ich doch eh. Macht man doch eh. Die Pulsbereiche, die für Amateursportler bestimmt werden, sind unwichtig. Es geht beim Marathon um die Zeit, nicht um die Herzfrequenz. Klar ist es interessant, danach die Durchschnittsherzfrequenz des Laufes zu wissen. Aber das, was wirklich interessiert, ist die Zeit. Ich gebe also die Pulskontrolle ab und achte nur auf die Zeit.

Und die wird leider langsamer als 2:45 sein. Auch da beißt die Maus keinen Faden ab. Ich schaffe die Geschwindigkeit nicht. Zu alt, zu faul und zu untalentiert. So ist es. Aber ich habe trotzdem Spaß und freue mich, wenn ich vielleicht eine neue Bestzeit laufe. 2:47:55 zum Beispiel. Ich möchte einfach nicht einbrechen, mich nicht allzu sehr quälen müssen (hahaha) und das Tempo einigermaßen aufrecht halten können.

Dazu sind alle Helferlein postiert. Die Kilometer fünf, neuneinhalb, vierzehneinhalb, siebzehn, neunzehneinhalb, vierundzwanzigeinhalb, neunundzwanzigeinhalb, dreiunddreißig, sechsunddreißigeinhalb und neununddreißigeinhalb markieren die Punkte, an denen es Fresschen gibt. Kohlenhydratgel mit Wasser, 250ml Gesamtvolumen. Alle sind da, Alle sind von der Wichtigkeit überzeugt. Alle unterstützen mich und nehmen meinen Wahnsinn ernst. Das rührt mich und ich empfinde große Dankbarkeit. Mal echt jetzt! Tolle Freunde habe ich da.

Ich habe so viel Suppe für meine Freunde, dass ich sogar Herrn Milde vom SCC eine Minestrone ausgeben könnte. Kostenlos. Auch einen Brownie darf er haben. Mit Zucker. Der erste Zucker nach 12 Wochen für mich. Na ja. Vielleicht der fünfte. Aber nicht mehr. Ehrlich. Und Wein gibt es morgen Nachmittag. Alkohol ist der Regenerationskiller Nummer eins. Also zuerst Wein. Fett ist der Regenerationskiller Nummer zwei. Also dann Butter, Käse, Schmalz und Salami. Und zum Abschluss sieben Brownies. Mindestens. Butter, Weißmehl, Zucker. Regenerationskiller Nummer drei bis achtundvierzig. Regeneration fällt morgen aus. Und übermorgen auch. Ich will so richtig schweren Muskelkater haben. Dienstags geht man alle Treppen rückwärts runter. Ich will sie auf allen vieren und rückwärts gehen müssen. Mittwoch auch noch.

Jetzt muss ich es aber irgendwie schaffen, bis morgen zu ruhen, heute Nacht zu schlafen und morgen nicht zu verschlafen. Und natürlich habe ich alle verfügbaren Zweifel. Habe ich wirklich richtig trainiert? Die Intervalle waren doch alle viel zu langsam, die langen Läufe alle zu schnell, die Kraftausdauerläufe auch zu langsam. Eigentlich war alles falsch. Trotzdem laufe ich mal mit morgen. Vielleicht klappt es ja doch. Vielleicht komme ich an. In Block-H-Zeit. 5 Stunden 21 Minuten und 59 Sekunden. Juhu. Marathon geschafft. 15 Uhr zu Hause. Dann kann ich die Suppe gerade noch rechtzeitig aufwärmen.

Oh mein Gott. Dieses Gequatsche. Schlimmer als das nervöse Startblock-Gequassel. Gestern habe ich sogar vom Fahrrad einen Läufer angeschrien, heute sei Ruhetag. Ich fand mich dabei sogar witzig. Er mich verständlicherweise nicht. Herr lass Abend werden. Morgen Abend.

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