Langsam

Menschen laufen. Menschen sind schon immer gelaufen. Zumindest bis zum Beginn der Industrialisierung. Menschen laufen viel. Menschen laufen lang. Menschen laufen weit. Der Vergleich mit dem Steinzeitmenschen, der täglich unzählige Kilometer gelaufen ist, um sich und seine Familie zu ernähren, langweilt. Was aber nicht langweilt, ist die Fähigkeit des Menschen, das aus den Genen wieder abzurufen. Es ist kein Problem, 32 Kilometer am Stück zu laufen. Das geht eigentlich immer. Und eigentlich auch ziemlich einfach. Man muss sich nur ein bisschen daran gewöhnen. Also trainieren. Und je weniger man dafür trainiert hat, desto langsamer muss man laufen. Aber wenn man mal auf dem Level ist, dann geht das erstaunlich locker. Und erstaunlich schnell. Zwei Stunden und 40 Minuten braucht ein gut Trainierter dafür. Langsam und Locker ist das dann. Viel lockerer, als acht mal Tausend-Meter-Intervalle in atemberaubendem Tempo. Auch wenn man es öfter macht. Tempo-Intervalle sind immer wieder unerträglich und sollen es auch sein.

Der Mensch ist also in der Lage unglaubliche Strecken zu Fuß zurückzulegen, aber eben nur in langsamem Tempo. Je länger die Strecke, desto langsamer muss man das Tempo wählen. Es gibt da so schlaue Formeln um seine Wettkampfzeit anhand eines Unterdistanz-Laufes zu berechnen. So ergeben sich zum Beispiel folgende Gleichungen:

00:17:10 auf 5 km = 00:35:50 auf 10 km = 01:19:00 auf den Halbmarathon und 02:45:00 auf den Marathon. Man sieht also, dass man nicht einfach die Zeit mit der Strecke multiplizieren kann. Der gesunde Menschenverstand sieht das natürlich auch ohne diese Zahlen. Der gewiefte Kilometerschwabe könnte natürlich jetzt sagen, ich suche mir einen Fünf-Kilometer-Trainingsplan heraus und trainiere damit für 17 Minuten auf 5 Kilometer. Das ist zweifelsohne recht flott. Der Trainingsplan wird mit erheblichen Tempoeinheiten daherkommen und einen Untrainierten schnell in seine Schranken verweisen. Aber er wird mit etwa 50 bis 60 Kilometern in der Woche sicherlich höchstens die Hälfte des Umfangs fordern, den ein Marathonplan für das Zeitäquivalent 2:45:00 fordert. Also lieber Herr Schwabe. Da wird die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Selbst wenn du es schaffst, im ausgerechneten Marathontempo die ersten Kilometer zu laufen, wird nach meiner Schätzung bei Kilometer 21 Schluss sein. Und zwar ganz Schluss. Für mindestens eine Woche. Kein Schritt ohne fürchterliche, erbarmungslose Schmerzen wird möglich sein. Das geht vorbei. Aber ein Zielerlebnis bleibt dir verwehrt. Und wenn die ganzen Finisher schon fröhlich umherhüpfen, gehst du noch rückwärts die Treppen runter und reißt die Geländer aus der Wand, die nicht für tonnenschwere Beine geschaffen sind, die sich nicht selbst tragen können, geschweige denn deinen Körper.

So, der Zeigefinger fährt ganz langsam wieder ein. Es will und muss gelaufen werden, will man die volle Distanz eines Marathons ohne Schaden überstehen. Umfang! Fleiß! Langsam! Gerade das „Langsam“ fällt mir immer schwer. Die langen Läufe müssen langsam sein, sonst trainiert man die falschen Systeme. Besonders gewiefte Renner, denen alles leicht fällt, laufen die lang(sam)en gern viel zu schnell. Ich nehme mich da als Letzten aus. Langsame Läufe werden in der Regel zu schnell gelaufen und die harten schnellen Intervalle meist zu langsam. Das ist ein so verbreitetes Phänomen, dass jeder Läufer, der das hier liest, sagen wird: „Ja, lieber Onkel Zeigefinger, du hast recht. Ich weiß es und will es nicht mehr hören und du bist ein Klugsch…!“ Okay. Ich sag nix mehr. Nie wieder. Langsam ist der Erfolg für den Marathon. Langsam loslaufen, Training langsam steigern, lange Läufe langsam laufen, langsame Zeiten vornehmen. Langsam dämmert es sogar mir. Nach 20 Jahren Lauferfahrung. Wird langsam Zeit.

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