Schade sei es, dass ich gar nicht mehr von meiner Vorbereitung auf den Ultralauf erzähle. Finde ich auch. Wahrscheinlich bin ich so überwältigt und ehrfurchtsvoll schweigsam ob des unerreichbar scheinenden Ziels. Vor Kurzem wurde die Strecke noch ein bisschen ausgeweitet. Es sind jetzt 73,5 Kilometer geworden. Und ehrlich gesagt freue ich mich auf diese 700 Mehr-Meter am allermeisten. Also vielen Dank für dafür!
Heute waren letzte Intervalle. Drei mal zwei Kilometer im Halbmarathontempo habe ich mir auferlegt. Eigentlich ganz schön hartes Training. Am vergangenen Sonntag waren es nur zwei Stunden langsam. So sieht Tapering der Ultras aus. Ein Halbmarathon in der Taperingphase und drei mal 2.000 Meter als Abbauverhinderungsreiz. Ist eben alles ein bisschen länger. Auch im Training. Aber auch langsamer. Das ist mein Trumpf. Als Marathonflachstreckenbiszumanschlagausreizer habe ich nun unendlich viel Zeit. Denn hier geht es nicht um Sekunden pro Kilometer, sondern um Stunden. Im Ernst: ich weiß nicht, ob ich achteinhalb oder sieben Stunden brauche. Oder gar neun?
Die schiere Distanz ist es einerseits – noch nie bin ich mehr als 44 Kilometer am Stück gelaufen – aber es sind natürlich auch die Höhenmeter, die ein gutes Einschätzen der Zeit beim ersten Versuch unmöglich machen. Der Streckenrekord liegt bei vier Stunden und fünfzig Minuten, wie das gehen kann, wird mir verborgen bleiben.
Ich freue mich natürlich darauf, mit dem Schlafsack auf dem Boden einer Turnhalle neben 400 anderen Läufern nicht zu schlafen. Ich freue mich auch darauf, mit den beiden alten Hasen, die beide schon mehr als dreißigmal den Rennsteig gelaufen sind, dorthin zu fahren. Ich freue mich auf das schönste Ziel der Welt. Ich freue mich auf die Rostbratwürste, die ich nur riechen werde, auf das Schwarzbier, das ich nur sehen werde und auf Kilometer einundsechzig. Warum Kilometer einundsechzig? Den kenne ich noch nicht. Kilometer eins bis zweiundvierzig kenne ich persönlich. Wir hatten alle schon ein intimes Verhältnis. Es ist der Reiz des Neuen. Ich bin freudig erregt, wenn ich dem Kilometer einundsechzig zum ersten Mal hinterherrenne. Auch Kilometer siebenundsechzig und neunundvierzig werden eine Affäre wert sein. Dieses Mal möchte ich mich aber ganz monogam auf Kilometer einundsechzig einlassen. Denn von da ist es nur noch die Standard-Hausrunde an der Spree und im Tiergarten. Ein Katzensprung, eine Regenerationsrunde bis ins schönste Ziel der Welt.
Wieso nur macht man das? Mutig und ein bisschen verrückt sei das. Ich finde es im Moment vor allem verrückt. Aber andererseits weiß ich ja, dass der Lauf schon Tausende Male überlebt wurde. Es ist also nur für mich Neuland. Und für alle anderen, die ihn zum ersten Mal machen. Ich glaube, es kann eine Strategie sein, sich andere Ultra-Marathons zu vergegenwärtigen. Es gibt natürlich den Ultra aller Ultras, den 100 Kilometer-Lauf von Biel. Der ist allerdings recht flach. Und dann gibt es so Sachen wie die Umrundung des Mont Blanc mit 168 Kilometern und mehr als 9.000 Höhenmetern. Dagegen erscheint diese Kleinigkeit am Rennsteig wie ein Kindergartenausflug.
So lege ich mir also das Ziel zurecht. Und gleichzeitig kommen die Ziele, die ich jetzt als Hilfe heranziehe in den Möglichkeitsraum. Ultra heißt halt jenseits. Mehr als. Viel mehr als. Viel mehr als möglich erscheint. Wenn man es nicht mal versucht hat.