Ultra ist lang

So, jetzt bin ich Ultramarathonläufer. 73,5 Kilometer und 1.874 Meter aufwärts sind kein Pappenstiel. Das habe ich gemerkt. Sehr vorsichtig bin ich es angegangen, beinahe ängstlich. Es war richtig so.

Sehr dankbar bin ich meinen beiden erfahrenen Mitstreitern, die sich dieses Jahr nur die Halbmarathondistanz gönnten und mich nicht nur im Ziel erwarteten, sondern mich auch mit reichen Informationen aus ihrem noch reicheren Erfahrungsschatz versorgten. Ihre Gelassenheit, entstanden durch gut zweistellige Supermarathon-Finishs, sprang auf mich über.

Sie fuhren mich nach Eisenach, meinen Startort, der nebenbei der Geburtsort von Johann Sebastian Bach und der Ort der Latein-Ausbildung Martin Luthers ist. Ein passender Ort für den Beginn einer langen Freundschaft.

Übernachtungen hatte ich allerdings schon komfortablere. Ein große Schule sollte das Hotel sein, Klassenzimmer die Schlafzimmer und Luftpolsterfolie das Bett. So weit so gut. Zunächst liegt nur ein einziges Bett. Als ich schon blau gelegen um 22 Uhr um mich schaue, zwängt sich gerade der etwa Zwanzigste bedrohlich dicht neben mich. Jetzt ist voll. Meine Nase auch. Wes Geistes Kind war ich, als ich mich für diese ach so originelle Form der Übernachtung entschied?

Nachdem ich nachmittags meine Luftpolsterfolie ausgebreitet hatte, ging ich zu Fuß in die Stadt, um die Buskosten zu sparen. Die Übernachtung schlug ja schon mit vier Euro zu Buche. Ich musste die Startgebühr entrichten und meine Startnummer abholen. Siebzig Euro hätte das gekostet, wenn, ja wenn nicht einer meiner erfahrenen Begleiter auf der Raststätte jemanden getroffen hätte, der aufgrund eines Faserrisses in der letzten Trainingseinheit nicht laufen konnte. Er trat mir seine Startnummer ab. Kostenlos. Ich hoffe, ich kann mich irgendwann bei jemand anderem revanchieren. „So ist das eben bei den Ultras“, sagte der, der dieses Mal nur mit dem Halbmarathon tanzt. Zehn Euro für die Ummeldung, ohne Nachfragen, einfach so, auf Vertrauensbasis, denn das scheint noch nie missbraucht worden zu sein. Den Namen auf der Startnummer streiche ich mit dem gereichten Stift durch und ersetze die alten mit den neuen Buchstaben. Bei Kilometer 37,5 werde ich mit dem richtigen Namen erwähnt, bei 55 ungefähr heiße ich wieder anders. Ich heiße aber gern so, zu Ehren meines edlen Spenders.

Mit der Startnummer im Rucksack besuche ich das Bach-Geburtshaus und bekomme kurz Gänsehaut. Tausendmal gespielt und immer ist genau das passiert. Bach ist auch Ultra. Die Wartburg muss ich auslassen, denn ich werde  bei der Ankunft in meinem Hotel bereits sieben Kilometer gegangen sein, das reicht für den Vortag.

20 Uhr ist Schlafenszeit, um sechs Uhr fällt der Startschuss. Schlafenszeit ist diese Nacht jedoch nicht. Denn der Bewegungsmelder schaltet das Licht immer an, wenn einer zu tief atmet. Und lässt es zehn Minuten an. Klassenzimmerlicht.  Sieben mal zwei mal zwei mal 36 Watt Leuchtstoffröhren in reinweiß. Tageslichtweiß. Klasssenzimmerweiß. Ein gutes Kilowatt Licht mehr oder weniger die ganze Nacht. So fühlen sich Terrorverdächtige in Guantanamo. Drei Uhr fünfzehn klingelt meine Pulsuhr und erinnert mich an den geräuschlosen Verzehr der Haferflockenpampe. Ohne zu schlafen, mehr noch: lichtgefoltert, geht es an den Start des Ultramarathons. Völlig gerädert nehme ich den glücklicherweise kostenlosen Shuttlebus. Flughafenfeeling in Eisenach.

1.600 von mehr als 2.400 gemeldeten Läufern finden sich tatsächlich am Start ein, auf dem Marktplatz von Eisenach. Ich gebe meinen Kleidersack ab, der nach Schmiedefeld gefahren wird und suche Schutz vor der Kühle im Festzelt. Hier tummeln sie sich, die Ultramarthonis. Ehrfurchtsvoll schweigend, vorsichtig schauend mische ich mich unters Volk und hoffe, nicht als Neuling erkannt zu werden. Das scheußlichste T-Shirt aus meiner Sammlung habe ich über das langärmlige Laufhemd mit der Startnummer gezogen. Ich wollte es nach dem Start wegwerfen. Ich habe es nach der Ummontage der Startnummer nur leicht fröstelnd bis ins Ziel gebracht. Werbung für das schlimmste Schnellrestaurant der Welt als Verweigerer aller tierischer Produkte auf dem Rennsteig zu machen hat etwas ganz eigenes. Ich sollte es wohl noch aufheben. Wer weiß, wozu es noch fähig ist.

Schleim ist der Zaubertrank des Rennsteigs. Hafersuppe oder -schleim, je nach Verdünnung, gibt es fast an jeder Station. Mal mit Blaubeeren, mal ohne, mal weiß man, dass keine Milch drin ist, mal vermutet man, dass welche drin ist. Muttermilch der Kuh während einer extremen Belastung ist meines Erachtens aus rein sporternährungswissenschaftlicher Sicht nicht der Trank der Wahl. Ich hangele mich also von Verpflegungsstation zu Verpflegungsstation, trinke Wasser, trinke süßen Tee, trinke oder esse Schleim, esse Bananen und genieße die unglaublich freundlichen Reicher dieser Gaben und Hand aufs Herz auch die damit verbundenen Gehpausen. Echtes Dunkelbier, Thüringer Bratwürste und Schmalzstullen lasse ich ebenso aus wie Butterbrote und koffeinhaltige Erfrischungsgetränke. Dennoch bewundere ich alle, die das bei Kilometer 60 zu sich nehmen.

Es geht eigentlich ab Kilometer 36 schwer. Da ist es wie beim Marathon. Nur, dass man nicht noch gut sechs, sondern sehr gute sechsunddreißig Kilometer laufen muss. Die Hälfte der Höhenmeter haben wir bei Kilometer 25 geschafft, die andere Hälfte verteilt sich ziemlich ungeschickt auf die restlichen knapp 50 Kilometer. Allerdings ist der lange Abstieg nach Schmiedefeld schon sehr freundlich. Bergab ins Ziel. Das ist nett vom Rennsteig. Da kann man dann sogar wieder rennen. „Du hast es geschafft“, ruft mir eine Wanderin begeistert  bei Kilometer 73 zu. Ja, das habe ich. Ich habe es geschafft. Nicht mehr und nicht weniger. Es geht. Und es geht vorbei, wie alles. Im Ziel muss ich kurz weinen. Wegen der Rührung oder der Bewegungsunfähigkeit? Ich weiß es nicht.

Ich mache es wieder. Diesen schneller und einen anderen länger. Der Beginn einer langen Freundschaft.

 

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