Der Ganzjahresläufer hat im Gegensatz zum Schönwetterläufer einen größeren Erlebnispool, aus dem er berichten kann. „Damals, als ich bei Minus 27 Grad und Windstärke sieben auf den Feldberg hochgerannt bin und meine Handschuhe verlor“ oder „damals, als es kurz vor Ostern diesen Temperatursturz gab und ich von zentimeterdicken Eiskugeln fast erschlagen wurde“ oder eben die erst kurz vergangene Vergletscherung. Wenn jemand im Winter laufen tut, dann kann er was verzählen. Frei nach Matthias Claudius.
Wenn einer immer laufen tut, dann kann er was erleben. Eines dieser uninteressanten Erlebnisse ist zum Beispiel der stehende Wind. Den gibt es nur im flachen Nord- und Ostdeutschland. Es ist ein Wind, der absolut tot ist. Er bläst wie ein geeichter Industriefön im Windkanal. Immer aus der gleichen Richtung, immer gleich stark und immer gleich kalt. Testlabor auf dem Land. So etwas kennt man im bergigen Land nicht. Das ist eine Spezialität des Flachlands. Auch am Meer ist das meines Erachtens anders. Da lebt der Wind. In Nord- und Ostdeutschland im Winter und im Frühjahr ist der Wind aus Osten eingeschlafen. Oder gestorben. Und irgendjemand hat vergessen, ihn auszuschalten. Oder ihn wenigstens etwas aufzuheizen. Nix. Eiskalt und stehend kommt er aus Osten und bläst und bläst und bläst. Ohne Unterlass.
Nun fällt dem eifrigen Erzähler natürlich ein, dass das ein gutes Training ist. Man kann langsamer laufen und hat den gleichen Trainingseffekt. Der schlaue Beobachter merkt natürlich, dass die Anstrengung die gleiche ist. Es ist psychologisch also äußerst ungut, sich gleich anstrengen zu müssen und viel langsamer zu laufen, bloß weil einem ein gestorbener Wind eiskalt im Gesicht steht. Dazu kommt noch, dass das besonders weh tut, wenn man in der Endphase eines Laufs noch eine Endbeschleunigung einfügen muss. Und will es der Teufel, erwacht da der Wind kurz zum Leben. Eine Zuckung nur. Und nach der Zuckung rastet er sofort wieder ein, auf einer etwas höheren und kälteren Stufe. Das ist wie eine Gegenstromanlage im Schwimmbad. Nur ergibt das in den unendlichen Weiten Brandenburgs einfach keinen Sinn.
Der Wind, der Wind, das himmlische Kind. Der Läufer empfindet ihn eher als Gesandten des Teufels. Und wenn er nicht aus dem Hades geklettert ist, steht er noch heute im Gesicht aller Ganzjahres-Flachlandläufer.