Laufen für andere, die zweite

Ende September 2019 war es wieder so weit. Ein Marathon in der scheußlichsten Stadt Deutschland stand an. Der Berlin-Marathon. Gesponsort von der langweiligsten Automarke der Welt. Das Wetter war zunächst trocken und wurde auch dann zum schmuddeligsten der letzten Jahre. Und das war’s dann auch schon mit den Negativ-Rekorden.

Ein Marathon beginnt ja immer schon ein Jahr vor dem eigentlichen Lauf. Entweder mit einem Marathon als Zuschauer, einem Marathon, der missglückt ist, einem Marathon, der fantastisch war, einem Marathon, den man wegen Krankheit oder Verletzung nicht laufen konnte oder mit einem Traum von einem Marathon, bei dem man zu spät zum Start gekommen ist und dann die Strecke nicht gefunden hat oder, oder, oder. Jeder Marathon fängt also immer mit einem Marathon an.

Laufen für andere war ja schon einmal. Das hat Spaß gemacht und ist etwas ganz anderes. Dieses Mal soll es etwas größeres werden: Ein Marathon in 3:30 für eine 50-jährige. Sie ist nebenbei noch Mutter von vier Kindern.

Auch hier fängt der Marathon natürlich schon mindestens ein Jahr vorher an und zwar mit einem, den sie wegen einer Verletzung nicht laufen konnte. Dann sind ja so 50. Geburtstage auch nicht gerade seelische Jungbrunnen. Da muss man schon von außen mal etwas zufügen, um nicht vor Langeweile während des Wartens auf die Rente zu sterben. Nehmen wir also einen Marathon in dreieinhalb Stunden. Passt.

Dazu bedarf es eines Trainingsplanes, der die Vielbeschäftigung berücksichtigt, aber trotzdem angemessen auf diese Leistungserwartung reagiert. Den habe ich gemacht, kontrolliert und angepasst. Teilweise stand ich auch mit der Peitsche an der Bahn im Stadion. Im Verlauf des Planes nähern sich die Tempi wirklich dem Zieltempo. Simulierte 10.000 Meter Läufe, 15 Kilometer Landschaftsläufe und natürlich die großen, langen, langsamen, nüchtern gelaufenen 30 bis 35 Kilometerläufe an den Sonntagen. Ergänzungsübungen, Koordination, Ernährung. Kein Hexenwerk, aber man muss es halt machen. Die 3:30 sind eben nahe an der Leistungsgrenze, da hört der Spaß ganz langsam auf.

Das Training hat geklappt. Gesund geblieben sind wir alle. Diszipliniert haben wir uns. Mental sind wir gut drauf. In der Taperingphase haben wir nix mehr zerstört. Der Tag kann kommen und er kommt auch, wie das Amen in der Kirche. Wettkampf!

Es ist wir immer. Wetter erstmal gut. Startbereich rammelvoll. Kleidersack abgeben. Bissle aufwärmen. Bissle frieren. Bissle nervös sein. Bissle Angst haben, dass man nicht rechtzeitig in den Startblock kommt. Bissle Angst, dass man zu schnell losläuft. Bissle Angst, dass man nach Kilometer drei schlappmacht. Bissle von allem. Auch bissle Freude sogar. Aber Moment. Dieses Mal ist ja alles anders. Thomas und ich sind ja nur die Hasen für Antje. Nur! Ein bisschen Verantwortung ist da schon dabei. Wir sind die Pacemaker. Wir müssen darauf achten, dass Antje genau 4:59min/km läuft. Und zwar von Anfang bis Ende. Wir müssen die Verpflegung holen und ihr geben. Wir müssen Windschatten machen. Und wir machen ihr den Weg frei. Sie soll laufen und sonst nix.

Natürlich haben wir auch Helfer an der Strecke positioniert. Die sind vorwiegend für die psychische Gesundheit da. Natürlich reichen sie auch Fläschchen mit Kohlenhydraten. Aber das Wichtigste ist, dass sie da sind und bewundern.

Der Anfang ist unspektakulär. Der erste Kilometer in 5:12 min. Das ist ein Hauch zu langsam, aber besser, als zu schnell. Viel besser. Bis Kilometer 10 ist alles unspektakulär. Kurz vor Kilometer zehn steht die ganze Familie, brüllt, reicht Gels und Wasser. Die Kleinste rennt 300 Meter mit. Ich glaube, das hat geholfen. 4:44 für diesen Kilometer zeigt die Euphorie.

Thomas und ich haben uns noch Schilder gemacht mit „PACE ANTJE“. Da fühlt man sich gleich noch ein bisschen professioneller. Antje war es natürlich peinlich. Uns egal. Uns ist so oder so ziemlich egal, was Antje so fühlen und machen möchte heute. Wir haben sie dazu gebracht, Maschine zu sein und nicht nachzudenken. Das klappt auch ganz gut. Bis zum Halbmarathon wechseln wir uns ab. Einer rennt manchmal vor und macht etwas Windschatten, der andere holt die Verpflegung, schließt wieder auf und reicht es ihr in laufgerechten Schlucken. „Lauf, du Sau! Alles andere machen wir. Auch das Denken.“

So pacen wir von Hilfsstation zu Hilfsstation, treffen Antjes Unterstützer, Freunde und an Kilometer 39 wieder die ganze Familie. Boah. Das ist Gefühlsatomkrieg. Der Verlust der Mutter im Sommer, die unfassliche Erschöpfung und dann die Familie. Das drückt auf die Seele und aufs Tempo. 5:12 Minuten für diesen Kilometer. Aber jetzt loslassen? Das sagt der Überlebensinstinkt. Hier muss Druck her. Antje erzählt uns nachher, dass sie ab Kilometer 35 überlegt hat, wie sie es uns sagen soll, dass sie jetzt ein bisschen langsamer laufen muss. Sie hat es nicht gesagt. Aber nicht etwa, weil sie wusste, dass das Quatsch ist, sondern weil ihr einfach partout nicht einfiel, wie sie es uns sagen soll.

Ich schiebe Antje mit meiner Hand an ihrem Rücken. Jede Sekunde, die sie das Tempo rausnehmen will, wird mit mehr Druck quittiert. Jetzt ist alles erlaubt, nur nicht das Langsamerwerden. Das ist keine Option. Das Gespann – Thomas brüllt sie von vorn an, ich drücke von hinten – schleppt sich am Gendarmenmarkt vorbei Richtung Unter den Linden, nach endlosen Schritten sehen wir das Brandenburger Tor in deutlicher Entfernung. Ich wundere mich, dass ich immer noch so stark drücken muss. Sieht sie denn nicht das Ziel schon? Wo ist denn der Wille? Auf geht’s! Thomas brüllt sich heiser ich drücke und zeige ihr, was das Tempo sein muss. Da erreichen wir das Brandenburger Tor. Danach kommen die längsten 200 Meter der Erde. Vom Brandenburger Tor weitet sich die Straße auf die ganzen 5 Spuren und das Ziel ist in Sicht und ebenfalls die gnadenlos laufende Uhr. Sie könnte ja wirklich mal ganz kurz anhalten. Wegen eines Stromausfalles oder einer Funkübertragungsstörung. Tut sie aber nicht.

3:31:45 steht als Nettozeit am Enda da. Mit 50, vier Kindern und ohne Mutter.

Herzlichen Glückwunsch.

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