Letzte Reize

Noch 5 Tage sagt die Uhr des Zeitmess-Sponsors des weltgrößten Straßenmarathons. Großspurig träumen darunter drei Athleten von der gebrochenen 2-Stundenmarke. Oder besser gesagt: sie werden vom Veranstalter geträumt. Der ist sich für keinen Superlativ zu schade. Ist denn nicht gerade ein Experiment unter unwirklichen Bedingungen, auf einer Rennbahn in Italien gescheitert? Nike wollte diese Marke geknackt haben und lud Herrn Kipchoge und Kollegen ein, dieses blödsinnige Experiment mitzumachen. 25 Sekunden haben gefehlt. 30 Millionen hat es gekostet. Und was hat es gebracht? Hinter ständig ausgetauschten Tempomachern, hinter einer windschützenden Zeittafel auf einem Elektroauto unter idealen Bedingungen den Marathon unter zwei Stunden zu laufen? Das ist so, als wenn man mit dem Fahrrad hinter einem Bus herfährt und sich über den Schnitt von 42 km/h freut. Das Experiment war Anfang Mai, jetzt ist Ende September. Ich wage die Prognose, dass das nicht zu einer Rekordzeit von Herrn Kipchoge am Sonntag führt.

Ohne ein 30-Millionen Budget treffen wir uns heute auf der Laufbahn und hindern unsere Muskeln daran, einzuschlafen.  Ein paar mal 400 Meter sollen das erreichen. Fühlt sich komisch an, schließlich sind wir in der Tapering-Phase. High-Intensity-Training. Das tut nochmal kurz weh. Soll es auch und dann ist es wirklich vorbei. Die entspannteste Woche des Jahres. Sportlich gesehen. So wenig Training und dabei ein gutes Gefühl hat man sonst nie. Von den Entzugserscheinungen mal abgesehen.

Man muss schon einiges an Erfahrung oder/und eine blühende Fantasie haben, um zu erkennen, dass das förderlich ist. Wenig, das sich im aktuellen Trainingszustand wie Nichts anfühlt, bringt am Ende des Zugespitzten maximale Leistung. So war es immer. So ist es. So wird es sein.  So wahr uns der Trainingsgott helfe.

Wer untersucht das eigentlich? Wer hat wissenschaftlich und allgemeingültig nachgewiesen, dass man am Dienstag vor dem Marathon nochmals die Muskeln spielen lassen soll, nur ein bisschen und dann nicht mehr? Manche machen es auch am Mittwoch. Wer hat recht? Und warum? Wo ist die individuelle Komponente? Vielleicht gibt es ja auch jemanden, für den genau das am Donnerstag gut wäre? Vielleicht …

Manche machen es kurz und sehr hart. Also so sieben mal 400 Meter. Manche machen es etwas länger und nicht so hart, also so etwa fünf Kilometer am Stück im Marathontempo. Ich habe beides schon gemacht. Funktioniert beides. Ist es also beliebig? Nein! Natürlich gibt es Rahmenregeln, die für alle gelten. Aber wo genau sind die Grenzen dieses Rahmens? Das weiß bei aller Wissenschaftlichkeit keiner genau. Und das ist auch gut so. Schließlich ist das Wunderwerk Körper in der Lage viel auszugleichen und damit den wissenschaftlichen Schubladen ein Schnippchen zu schlagen.

Ich schlage heute der Bahn ein Schnippchen. Sieben Runden tun kurz weh bis sie rum sind. Zack-vorbei. Sieben mal Puls bis 179. Dann locker auslaufen und aaaah! Geschafft. Trainingsplan bewältigt. Allein das ist schon eine Leistung muss ich mir und allen anderen 39.999 auf die Schulter klopfend behaupten. 1130 Lauf-Kilometer seit Juli und 2000 Radkilometer sind die eigentliche Arbeit, der Lauf am Sonntag eigentlich nur das Ergebnis dieser Arbeit.

Also auf zum letzten, sehr wichtigen Reiz, zum Herr-lass-Abend-werden-Reiz.

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